Mysterium Leib. Berlinde De Bruyckere im Dialog mit Lucas Cranach und Pier Paolo Pasolini, 21.10.2011 - 12.02.2012
Unerschrockene Annäherung an das Leiden
Das Kunstmuseum Bern zeigt die in Europa bisher grösste Einzelausstellung von Berlinde De Bruyckere (*1964). Die flämische Künstlerin schafft täuschend echte Skulpturen und bewegende Zeichnungen von leidenden menschlichen Körpern. Präsentiert werden sie im Dialog mit Werken des deutschen Renaissance Malers Lucas Cranach und des italienischen Filmemachers Pier Paolo Pasolini.
Der menschliche Körper ist eines der am häufigsten dargestellten künstlerischen Themen, wird aber von jeder Generation Kunstschaffenden auf neue Weise interpretiert. In der Ausstellung wird Berlinde De Bruyckeres intensive Beschäftigung der letzten Jahre mit dem Werk von Lucas Cranach und Pier Paolo Pasolini deutlich.
Neuer Existentialismus in der Gegenwartskunst
De Bruyckeres Darstellungen des leidenden Menschen sind schockierend direkt und berührend. In den existenziellen Leidensdarstellungen vereinen sich Momente des Schmerzes, aber auch der Lust, der Scham und der Trauer. Die Künstlerin versetzt den Betrachter in wechselnde Gefühlslagen zwischen Abscheu und Betroffenheit. Dabei betont De Bruyckere das Allgemein-Menschliche, nämlich dass wir alle leiblich sind.Sie vertritt eine Haltung, die sich der Schönheits- und Eventindustrie widersetzt. Anders als die Idealbilder der Werbung verbergen die Körperplastiken ihre Narben und Nähte nicht, sondern lassen genau dort ihre Verletzlichkeit aufscheinen. Ihre Skulpturen machen dem Betrachter bewusst, dass unser Körper verletzlich und vergänglich ist. Dieses Bewusstsein droht in unserer Welt, die von neuen Medien durchsetzt und geprägt ist, zu schwinden. De Bruyckere gelingt es, den Betrachter zu echtem Mitgefühl zu bewegen, ohne dass ihre Werke voyeuristisch wirken.
Politisch-kritische Hinterfragung der Gesellschaft
Bei Lucas Cranach war die Leidensthematik noch klar in einen religiösen Kontext eingebettet. Sein meisterhaftes Gemälde Schmerzensmann zeigt den geschundenen Christus mit Dornenkrone, um den Betrachter zu religiöser Einkehr und Mitgefühl zu bewegen. Cranach stellt Christus als leidenden Menschen dar, nicht als Gott und unterläuft damit die kirchliche Ideologie. De Bruyckere greift das Motiv des Leidens auf, verankert es aber in der Gegenwart. Sie hinterfragt die moderne Gesellschaft kritisch und nimmt damit auch eine politische Haltung ein. Diese Haltung teilt sie mit Pier Paolo Pasolini. Der italienische Filmemacher inszeniert den menschlichen Körper als Schauplatz von Sinnlichkeit, Unbezähmbarkeit und Individualität, aber auch von sexuellen und gewalttätigen Exzessen. Der Leib ist für Pasolini auch einer der wichtigsten Schauplätze in seinem Kampf gegen die kleinbürgerliche Ordnung, in der er den Faschismus und die Konsumgesellschaft begründet sah.
Dialog über Medien und Epochen hinweg
So präsentiert die Ausstellung einen medienübergreifenden Dialog von Skulpturen, Zeichnungen, Gemälden und Film. Der Dialog erstreckt sich aber nicht nur über verschiedene Medien, sondern auch über Epochen hinweg. Die Ausstellung macht deutlich: ein «Mysterium» – im Sinne eines Sachverhalts, welcher sich nicht eindeutig erklären lässt – ist der Leib seit jeher. Jeder Einzelne ist dazu aufgefordert, sich damit auseinanderzusetzen.
Die Ausstellung ist eine Kooperation mit Cornelia Wieg & der Stiftung Moritzburg — Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt, wo die Ausstellung vom 3. April bis 3. Juli 2011 zu sehen war.