Kunstmuseum Bern @ PROGR: Ingrid Wildi Merino
Als Ergänzung zur Ausstellung > DISLOCACIÓN. Kulturelle Verortung in Zeiten der Globalisierung präsentiert das Kunstmuseum Bern im PROGR die Videoarbeit ¿Aquí vive la Señora Eliana M…? (Wo wohnt Frau Eliana M...?) der Schweizer-chilenischen Künstlerin Ingrid Wildi Merino. Dieses ist der Vorläufer zum gleichzeitig im Kunstmuseum Bern gezeigten neuen Werk Arica y Norte de Chile – No lugar y lugar de todos (Arica und der Norden Chiles – Nicht-Ort und Ort für alle).
Fragmente verschiedener Interviews folgen in dialektischer Anordnung
aufeinander. Es sind dokumentierte Momente der Künstlerin auf der Suche
nach ihrer Mutter Eliana Merino, welche im Norden Chiles in Arica lebt.
Gleich zu Beginn wird deutlich, dass die Künstlerin ihre Mutter – eine
bekannte Wahrsagerin – findet. Man sieht sie zu Beginn des Filmes, als
sie über ihre Gabe spricht. Die ältere Dame sitzt am Rande eines Bettes, streicht ihre Strickjacke glatt und sagt: «Ich sagte auch die Berliner
Mauer voraus. Fünf Jahre bevor es geschah.» Mit diesen beiläufig
gesprochenen Worten beginnt die abenteuerliche Reise vom Zentrum an den
Rand Chiles. In ihrem 68-minütigen Video interviewt Ingrid Wildi Merino
Bekannte und Verwandte auf der Suche nach ihrer Mutter, mit der sie nach ihrer Migration in die Schweiz, 1981, allen Kontakt verloren hat. Die
Kamera folgt aus grosser Nähe, doch verliert sie nie die letzte Distanz
zum Gefilmten. Spannung entsteht durch die Neugier, welche die
Interviewten mit ihren Erlebnissen und erzählten Alltagsgeschichten
wecken. Durch die Suche nach der Mutter entsteht auch ein subjektives
Porträt der chilenischen Gesellschaft nach der Diktatur.
Das Video der Künstlerin verknüpft die losen Enden der
Familiengeschichte mit der unaufgearbeiteten Geschichte Chiles. So
erzählt Wildi Merinos Grossmutter von der Migration der eigenen Familie. Ein Kunstkritiker analysiert die Tendenz der Chilenen, ihre Herkunft zu verdrängen, während ein Onkel der Künstlerin seinen Beruf als
Anästhesist als Metapher für das typisch chilenische Bedürfnis
begreift, die eigene Geschichte zu vergessen. Eine Tante hingegen
folgert aus persönlichen parapsychologischen Erfahrungen auf weitere
Realitätsebenen, welche dem Auge normalerweise verborgen sind. So
begleiten unsichtbare Ereignisse und Kräfte die Reise der
Videokünstlerin auf ihrer Suche nach der Mutter. Das Video endet an der Schwelle zur letzten Türe, an welche die Künstlerin klopft und somit
die Frage in den Raum stellt, welche der erzählten oder verschwiegenen
Ge-schichten die Mutter nun eigentlich lokalisiert und am treffendsten
charakterisiert?Der Film, der sich gleichermassen aus Erinnerungen wie aus Vorhersagen
zusammensetzt, bleibt die letzte Antwort schuldig. Denn der Film selbst
ist die Antwort. Wildi Merino nutzt dokumentarische Strategien, um die
Menschen selbst zu Wort kommen zu lassen. Ihr Videoessay setzt sich aus Begegnungen mit Leuten zusammen, aus der Beschäftigung mit deren
Annahmen und Ansichten. Ihre Fragen sind präzise, doch lassen sie
genügend Raum für Abschweifungen und persönliche Ansichten. Aufgrund
ihrer eigenen Geschichte als Migrantin zwischen Lateinamerika und
Europa, zwischen den Sprachen Deutsch, Französisch und Spanisch
wandernd, bewegt sich Wildi Merino auch als Künstlerin zwischen
verschiedenen Erzählweisen und Realitätsebenen. Fiktion und Realität
lassen sich schlecht unterscheiden und gehen ineinander über. Durch
diese Mischform mit seinen Lücken und Brüchen entsteht ein letztlich
wahrhaftigeres Bild der vermissten Mutter und der Geschichte Chiles.
Ingrid Wildi Merino
1963 geboren in Santiago de Chile; 1981 Emigration in die Schweiz
Bildende Künstlerin und Dozentin an der Haute école d’art et de design
Genève. Dozentin im Masterstudiengang Szenische Praxis und Visuelle
Künste in Madrid; Postgraduiertenlehrgang an der Universität Alcalá in
Kooperation mit dem Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, der Casa
Encendida, dem Matadero und dem British Council in Madrid. Lebt und
arbeitet in Biel und Genf.
Kunstmuseum Bern @ PROGR
Als Zeichen der
Unterstützung des blühenden Kulturzentrums PROGR, aber auch als Chance,
einem jüngeren und eher an Off-Spaces orien-tierten Publikum unser
kulturelles Angebot näherzubringen, unterhält die Abteilung Gegenwart
des Kunstmuseums Bern ab 18. November 2010 ein Schaufenster im PROGR.
Gleich anschliessend an die Räume der Stadtgalerie befindet sich der ca. 55 m2 grosse Raum des Kunstmuseums, der während denselben
Öffnungszeiten wie die Stadtgalerie – nämlich bis auf Weiteres von
Donnerstag bis Samstag 14 bis 18 Uhr – zu besichtigen ist. In lockerer
Abfolge werden darin Werke aus der Sammlung Gegenwartskunst des
Kunstmu-seums präsentiert und sind Künstler und Künstlerinnen mit ihren
Beiträgen, die ihn losen Zusammenhang zum Ausstellungsprogramm im
„Mutterhaus“ stehen, zu Gast.